Monteverdi: Marienvesper

Aufführung mit dem solistisch besetzten Ensemble Resonance und dem vielfach ausgezeichneten Ensemble Les Cornets Noirs (Basel)

Claudio Monteverdis ebenso monumentale wie filigrane “Marienvesper” aus dem Jahr 1610 vereint opernhafte Dramatik und altehrwürdige Gregorianik, instrumentale Virtuosität und kantable Melodik, musikalische Affektschilderung und räumliche Echo-Effekte, leidenschaftlicher Sologesang und mehrchörige Klangpracht. Wenn der Solotenor mit dem eröffnenden Ruf beginnt und sogleich die Fanfare des Hofes von Mantua mitsamt dem liturgischen Ruf “Gloria Patri et Filio” folgt, dann öffnet sich ein Kosmos barock-musikalischer Formen. Kein geistliches Werk jener Zeit ist so facettenreich wie diese von erstrangigen Spezialisten der Alten Musik dargebotene Vespermusik zu Ehren der Gottesmutter.

 

Vespro della beata virgine: Geschichtlichkeit als Modernität

Norditalien um 1560. Die ehrwürdigen Herren Kardinäle des Tridentiner Konzils beschäftigen sich mit der Zukunft der Kirchenmusik. Zu viel Profanes ist in letzter Zeit in die Messen und Motetten der römischen Liturgie eingedrungen. Muss man nicht um die Reinheit der musica sacra fürchten, wenn derbe Volkslieder, ja Gassenhauer - mühsam mit geistlichem Text unterlegt - am Altar erklingen?  Es erheben sich Stimmen, die eine radikale Abkehr fordern, einen Bruch nicht nur mit den „lasziven Missbräuchen“ der Kirchenmusik, sondern mit der gesamten Tradition der Mehrstimmigkeit.

Soweit kommt es nicht. Die Legende sagt, Palestrina selbst habe in einem Treffen mit Paul IV. diesen von der Kirchendienlichkeit seiner Musik überzeugt. Jedenfalls scheinen seine Messvertonungen die  Forderungen der päpstlichen Kommission nach Andacht, Reinheit und Textverständlichkeit erfüllt zu haben: der Palestrina-Stil, Inbegriff klassischer Ausgewogenheit, gilt Jahrhunderte lang als mustergültig.

Isoliert betrachten sollte man die Fragen der Kardinäle nicht. Der Katholizismus wird im 16. Jahrhundert von mehreren Seiten bedrängt. Seine Fundamente haben Risse bekommen. Schon seit etwa 1400 ist unübersehbar, wie sich auf vielen Gebieten ein neues Bild des Menschen herauskristallisiert. Im Zeitalter der Entdeckungen ist aus dem viator mundi, Pilger zur himmlischen Heimat, der faber mundi, Beherrscher der Welt, geworden. Auch die Künste sind längst vom epochalen Aufbruch erfasst. Die Entwicklung der Vokalpolyphonie um 1430 hatte noch weitgehend im Raum der Kirche stattgefunden. Hundert Jahre später zeigt die Geburt des italienischen Madrigals den emanzipatorischen Prozess. Es ist der Beginn einer völlig neuen Art von Musik. Sie erklingt nicht in Gotteshäusern, sondern an den Fürstenhöfen Norditaliens, in Venedigs Palazzi und florentinischen Adelshäusern.

Radikal ist ihr Verhältnis zur Sprache. Diese Musik redet buchstäblich. Die Gesetze des Kontrapunkts gelten ihr immer weniger, der Textausdruck alles. Mochte die alte Musik die Menschen erbauen – die neue will sie bewegen, erschüttern, zu Tränen rühren. Ist es verwunderlich, dass die frühen Opern die Geschichte Orfeos erzählen, bei dessen Gesang selbst die Geschöpfe der Unterwelt sich erweichen ließen?

In den Opern und Madrigalen Claudio Monteverdis erreicht diese Expressivität in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts ihren Höhepunkt. Zwar wehren sich die Vertreter der „alten Schule“ gegen den Wandel und werfen Monteverdi vor, die musikalischen Gesetze zu übertreten - aufhalten können sie den Umbruch nicht. Monteverdis Bruder Giulio Cesare bezieht 1607 im Vorwort der Scherzi musicali Stellung und benennt die gegensätzlichen Musikstile:

Prima Pratica meint, dass es die Kompositionsart ist, die sich um die Vollkommenheit der armonia (gemeint sind die alten Tonsatzregeln) dreht.....Seconda Pratica meint, dass es die Kompositionsart ist, die sich um die Vollkommenheit der Melodia dreht...und die Rede (gemeint ist die Sprachbezogenheit der Musik) zur Herrin der armonia bestimmt. Aus diesen Gründen hat er sie „seconda“ genannt und nicht nova...

Il divino Claudio, wie ihn die Zeitgenossen nennen, ist ein sanfter Revolutionär. Er baut etwas Neues und lässt das Alte stehen. In früheren Zeitaltern war Musikausübung rein gegenwartsbezogen gewesen. Ein Epochenwechsel bedeutete in den meisten Fällen, dass die bisherige Musikpraxis vergessen wurde oder zur Bedeutungslosigkeit herabsank. Monteverdis Definition von prima und seconda pratica billigt funktional und stilistisch unterschiedlichen Systemen erstmals ihren eigenen Wert zu. Dieses Denken hängt mit der musikgeschichtlichen Polarisierung des 16. Jahrhunderts zusammen. Sakrale und profane Musik driften auseinander, es entwickelt sich eigenständige Instrumentalmusik und schließlich die Oper.

Doch sind die Gattungen nicht hermetisch getrennt. Nach wie vor gibt es weltliche Einflüsse in sakraler Musik; von dort kommen neue Notationsformen, virtuose Techniken und ein differenziertes Klangbewußtsein.Kein geistliches Werk jener Zeit ist diesbezüglich so facettenreich wie die vespro della beata virgine Claudio Monteverdis von 1610.

Zwischen den Psalmen der Marienvesper stehen Solomotetten mit Texten aus dem Hohelied. Auch wenn sie theologisch auf die Gottesmutter anspielen - die glühende Leidenschaft der Musik könnte auch den erotischsten madrigali amorosi Monteverdis entstammen. Viele Teile der Vesper gehören mit ihrer Emphase, Virtuosität und rhetorischen Ausdruckskraft zur weltlichen Sphäre. Doch ist der musikalische Reichtum noch weit größer. Raum– und Echoeffekte mancher Stücke klingen wie eine Hommage an die große Zeit venezianischer Mehrchörigkeit. Andere lassen zwischen modernen Instrumentalpartien den altmodischen Falsobordone wiederaufleben. Zu Beginn der Vesper zitiert Monteverdi in den Orchesterstimmen gar die gesamte Ouvertüre seines Orfeo!

Das Mittel, um die divergierenden Bestandteile der Marienvesper zu einem sinnvollen Ganzen zu verbinden, ist der gregorianische Choral, der wie ein roter Faden das Stück durchzieht.

Die ehrwürdigste sakrale Musiküberlieferung begegnet den kühnen Neuerungen der Seconda Pratica – ein Zusammentreffen eigentlich unvereinbarer Temperaturzustände. Doch hat genau das eine aufregende Konsequenz: In ihrer Gegensätzlichkeit können sich beide Pole schärfer konturieren. Am deutlichsten wird dies im siebenstimmigen Magnificat. Dort entsteht durch die Mehrschichtigkeit der musikalischen Struktur ein dreidimensionaler Raum: Im Hintergrund der als „frühgeschichtliche“ gregorianische Choral gleichsam versteinerte Cantus firmus, im Vordergrund  die ekstatische Modernität der Vokal- und Instrumentalsolisten. Es ist ein doppelter Aufladungsprozess: Einerseits wirken die theatralisch-modernen Passagen der Vesper gerade in der Spannung mit dem Choral revolutionär; man hört, daß sie als neue Musik geboren wurden. Aber auch der Gregorianische Choral hat sich im Blick der frühbarocken Moderne in einen anderen verwandelt. Er wird hier erstmals bewußt als Prinzip des Alten eingesetzt. Diese Gebrochenheit macht den Avantgardisten Monteverdi vielleicht zum Erfinder eines musikalischen Archaismus.                                                                               

© Johannes Tolle (2000)

Pressekritiken zur Marienvesper, 2015

> Dernières Nouvelles D'Alsace, 19.10.2015
> L'Alsace, Le, 20.10.2015
> Badische Zeitung, 21.10.2015

 

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